Um die Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Methoden des Multiprojektmanagements und der Strategie genauer zu untersuchen, wird zunächst ein fiktives Unternehmen vorgestellt. Anschließend werden die Methoden beispielhaft angewendet und mögliche Wechselwirkungen mit der Strategie diskutiert.
Betrachtet wird ein fiktives mittelständisches Unternehmen, welches diverse Reinigungsgeräte (Hochdruckreiniger, Roboter-Staubsauger etc.) für Handwerksbetriebe und Privathaushalte produziert und verkauft. Als neue Strategie wurde vor zwei Jahren festgelegt, die Produkte auch im europäischen Ausland zu verkaufen. Um die Markterweiterung zu initiieren, wurde damals ein Marktforschungsprojekt gestartet, um mithilfe von zielgruppenspezifischen Online-Fragebögen die abweichenden Kundenanforderungen an die Produkte auf neuen Märkten zu identifizieren. Außerdem wurden zwei weitere Strategien definiert, sodass das Unternehmen insgesamt drei Strategien verfolgt:
• Strategie 1: Geschäftsfeld auf internationale Märkte erweitern
• Strategie 2: Vertrieb der Produkte auf reinen Online-Verkauf umstellen
• Strategie 3: Bestmöglichen Kundenservice auf dem Markt bieten
Das Unternehmen führt nun eine Projektportfolio-Analyse mit der Methode nach Kühn etal. durch. Dabei wird angenommen, dass es momentan sechs laufende IT-Projekte im Unternehmen gibt:
• IT-Projekt 1: Relaunch des Online-Shops mit verbessertem Angebot und Kompatibiltät mit allen Endgeräten
• IT-Projekt 2: Entwicklung eines intergrierten CRM-Systems, um aktuelle Daten über alle Kunden zu haben
• IT-Projekt 3:IntegriertesERP-Toolimplementieren,umpersonelleRessourcenengpässe in Zukunft zu vermeiden
• IT-Projekt 4: Entwicklung einer internen Wissensmanagement-Datenbank über Produkte und Prozesse
• IT-Projekt 5: Anpassung der IT-Infrastruktur zum schnellen Export von Kundendaten gemäß der neuen DSGVO
• IT-Projekt 6 Internationale Marktforschung zur Identifikation von Kundenanforderungen in anderen Ländern
Mithilfe der Portfolio-Analyse nach Kühn etal. werden nun die Ankopplung der Projekte und der Strategien untersucht. Das exemplarische Ergebnis ist dargestellt in Abbildung 23. Als Ergebnis erhält Strategie 1 die niedrigste Projektankopplung (0,28), gefolgt von Strategie 2 (0,39) und Strategie 3 mit der höchsten Ankopplung von 0.50. Da dieStrategiederMarkterweiterungeinesehrgeringeProjektankopplungaufweist,sollteder Multiprojektmanager zusammen mit dem Vorstand diese genauer untersuchen. Es sollte hinterfragt werden, ob die Strategie immer noch zu den aktuellen Zielvorstellungen des Vorstandes passt. Daraus ergeben sich zwei mögliche Optionen für das Management: Option eins wäre, dass der Vorstand die Strategie weiterverfolgen möchte. Dann sollte überlegt werden, für die Strategie mehr Ressourcen frei zu machen, damit die Markterweiterung in Zukunft stärker voran getrieben wird und der Erfolg der Strategie sichergestellt wird.

Option zwei wäre, den Fokus auf eine andere Strategie zu lenken und Strategie 1 eventuell sogar ganz einzustellen. Dabei sollte der aktuelle Status sowie die Zwischenergebnisse aller Projekte betrachtet werden, welche mit Strategie 1 in Verbindung gehen. Eine genauerer Untersuchung des Marktforschungs-Projektes könnte beispielsweise hervorbringen, dass die Kundenanforderungen in anderen Ländern so stark von den jetzigen Produktanforderungen abweichen, dass die Weiterverfolgung der Markterweiterungsstrategie als nicht länger sinnvoll betrachtet wird und diese somit eingestellt wird. Stattdessen könnte sich das Unternehmen darauf fokussieren, seine Stärken weiter auszubauen. Da das aktuelle Projektportfolio sehr stark an Strategie 3 gekoppelt ist, könnte es deshalb sinnvoll sein, die Ressourcen auf diese Strategie zu konzentrieren. Die Strategie 3 – den bestmöglichen Kundenservice auf dem Markt zu bieten – kann beispielsweise durch einen intelligenten Online-Shop unterstütztwerden, indem das Unternehmendurchdie Analyse vongekauften Produkten den Kunden individuelle Produktangebote unterbreiten kann. Zusätzlich könnten weitere Projekte gestartet werden, um das Unternehmen zum Marktführer bezüglich des besten Kundenservices zu machen.
Darüber hinaus ergibt die Analyse, dass Projekt 1 (Entwicklung des Online-Shops) das Projekt mit dem höchsten Strategiebezug ist. Somit sollte dieses auf jeden Fall weiter durchgeführt und mit ausreichend Ressourcen ausgestattet werden. Das Projekt 4 (Wissensmanagement) hat dagegen den geringsten Strategiebezug von nur 0.11. Somit könnte überlegt werden, dass dieses Projekt aufgrund der niedrigen strategischen Relevanz eingestellt und dessen Ressourcen dem ersten Projekt zur Verfügung gestellt werden sollten. Insgesamt ergibt sich die folgende Projektpriorisierung in absteigender Reihenfolge:
1. Projekt 1 (Online-Shop)
2. Projekt 6 (Marktforschung)
3. Projekt 2 (CRM-System)
4. Projekt 3 und 5 (ERP-Tool, IT-Infrastruktur)
5. Projekt 4 (Wissensmanagement-DB)
Nachfolgend wird das gleiche Portfolio mit der Methode nach Hiller analysiert und priorisiert. Diese verfolgt einen ähnlichen Ansatz, in dem die Bedeutung der einzelnen Strategien im Hinblick auf die einzelnen Projekte bewertet wird (ähnlich der Strategieankopplung von Projekten nach Kühn etal.). Abbildung 24 zeigt die Auswertung der Portfolio-Analyse. Die Abstufung der Bewertungspunkte erlaubt bei dieser Methode lediglich die Werte 0, 1 (+) und 3 (++), jedoch ist zusätzlich eine negative Bewertung möglich. Dabei wurden alle drei Strategien gleich gewichtet und die Bewertung ähnlich der erste Projektanalyse durchgeführt, angepasst auf die leicht veränderte Bewertungsskala. Das Ergebnis ist dementsprechend sehr ähnlich: Die am höchsten priorisierten Projekte sind 1 und 6, gefolgt von Projekt 2. In der unteren Hälfte landen die Projekte 3, 4 und 5. Allerdings ergibt sich aufgrund der etwas anderen Bewertungsmethode eine leicht veränderte Reihenfolge:
1. Projekt 1 und Projekt 6 (Online-Shop, Marktforschung)
2. Projekt 2 (CRM-System)
3. Projekt 3 (ERP-Tool)
4. Projekt 4 und Projekt 5 (Wissensmanagement-DB, IT-Infrastruktur)
Nachdem das Projektportfolio mit einer der beiden oben genannten Methoden analysiert wurde, kann es sinnvoll sein, auch andere Scoring-Modelle mit einzubeziehen. Dadurch kann verhindert werden, dass die Projekte rein nach der strategischen Bedeutung priorisiert werden. Beispielsweise könnten bestimmte Projekte eine sehr geringe strategische Bedeutung und gleichzeitig einen sehr hohen Kapitalwert aufweisen. Somit wäre die Eliminierung dieses Projekts aus dem Portfolio nicht wirklich sinnvoll. Um diese Risiken vorzubeugen, kann beispielsweise die Strategie-Kapitalwert-Matrix nach Müller et al. verwendet werden. Somit erhält der Multiprojektmanager ein umfassenderes Bild von den aktuellen Projekten im Portfolio.

Des weiteren wird nun eine beispielhafte Interdependenzanalyse durchgeführt, welche sinnvoll ist, um Risiken zu vermeiden. Abbildung 25 zeigt die Auswertung für die Projekte des fiktiven Unternehmens, bei der die Projekte 1, 2 und 3 als isoliert, Projekt 5 als abhängig, Projekt 6 als dominant und Projekt 4 als kritisch kategorisiert wurden. Bei der Auswahl von Projekten für ein strategisches Portfolio sollten die Ergebnisse der Interdependenzanalyse immer mit einbezogen werden. Beispielsweise wurde bei der Projektpriorisierung nach Hiller zuvor Projekt 4 (Wissensmanagement-Datenbank) als sehr niedrig eingestuft. Gleichzeitig ist es aber ein Projekt, welches sowohl von anderen Projekten stark beeinflusst wird, als auch selbst einen starken Einfluss auf andere Projekte hat. Deshalb könnte die Kürzung von Ressourcen für das Projekt (aufgrund der vorherigen niedrigen strategischen Bewertung) auch einen negativen Einfluss auf andere (strategisch wichtige) Projekte haben.

Ein ähnliches Risiko birgt auf Projekt 5 (IT-Infrastruktur an DSGVO anpassen): Im Hinblick auf die drei definierten Strategien, wurde Projekt 5 als eher unbedeutend eingestuft. Allerdings hat das dominante Projekt einen großen Einfluss auf die anderen Projekte. Beispielsweise müssen bei der Entwicklung des CRM-Systems (Projekt 2) oder des Online-Shops (Projekt 1) die neuen gesetzlichen Regelungen der DSGVO beachtet werden.(Beispielsweise müssten Prozesse implementiert werden, die es Kunden auf Anfrage ermöglichen, sämtliche gespeicherte Informationen über sie zu extrahieren.) Folglich sollten auch bei strategischen Entscheidungen immer auch die Projektabhängigkeiten untersucht werden.
Zuletzt werden die Risiken der einzelnen Projekte betrachtet. Dazu wird die Risk-Reward Matrix verwendet. Die Größe der Kreise der Projekte ist proportional zu deren verfügbaren Budgets. Mithilfe der Risikofaktoren, welche auf Seite 35 vorgestellt wurden, können die Projekte bewertet und auf eine Risiko-Skala aufgetragen werden. Das Projektrisiko kann als antiproportional zum Projekterfolg betrachtet werden. In der Risk-Reward Matrix werden also Projekte mit hohem Risiko auf dem unteren Ende der y-Achse aufgetragen. Das Ergebnis zeigt folgende Kategorisierung: Projekt 1 wurde als sehr wertvoll und risikoarm identifiziert, da es im Diagramm als „Pearls“ kategorisiert wurde. Dieses Ergebnis wird dem Multiprojektmanager entgegen kommen, da Projekt 1 bei den vorherigen Analysen bereits als strategisch sehr wertvoll eingestuft wurde (siehe Seiten 39 und 41). Demnach sollte es jeden Fall weiter geführt und bei der Ressourcenverteilung priorisiert werden. Die Projekte 3, 4 und 5 landen in der Kategorie „Bread and Butter“und bieten damit ebenfalls hohe Erfolgsaussichten, auch wenn der berechnete Kapitalwert geringer ausfällt.

Allerdings wurden diese drei Projekte bei der Priorisierung nach Hiller und Kühn etal. als am wenigsten relevant für die Strategie eingestuft. Der Multiprojektmanager und die Geschäftsführung sollten sich also überlegen, ob diese Projekte aufgrund ihrer hohen Erfolgswahrscheinlichkeit trotzdem im Portfolio verbleiben sollten, oder ob deren Ressourcen möglicherweise für Projekte mit höherer strategischer Bedeutung verwendet werden sollten. Dagegen wurde der zu erwartende Erfolg von Projekt 6 (internationale Marktforschung) als eher gering eingeschätzt, obwohl der NPV eher hoch ist („Oyster“). Beispiele für die niedrige Erfolgswahrscheinlichkeit könnten z. B. technische Schwierigkeiten mit der Auswertungs-Software oder Unklarheiten über das Ansprachekonzept der internationalen Zielgruppe sein. Allerdings sind die benötigten Ressourcen des Projekts relativ gering. Zusätzlich wurde Projekt 6 mit einer sehr hohen strategischen Bedeutung priorisiert. In diesem Falle wäre es also sinnvoll, Maßnahmen zu entwickeln, um die Erfolgswahrscheinlichkeit zu Erhöhenund das Projekt weiterzuführen. Projekt 2 (Entwicklung CRM-System) weist einen geringen NPV sowie ein hohes Risiko auf („White Elephant“). Beispiele für das hohe Risiko könnten z. B. eine schlechte Dokumentation der Kundenkontakte oder fehlende Prozesse zur Aufnahme von Kundendaten sein, weswegen die Implementierung eines CRM-Systems zurückgestellt werden sollte, bevor diese Probleme gelöst sind.